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Keine Hexerei in Varel – oder doch?

Seit gut einem halben Jahr haben die Vareler mit Achim Engstlers „Was geht da vor, Sophie?“ wieder einen Roman, dessen Handlung – zumindest in Teilen – vor Ort spielt und dessen Personal auf historischen Vorbildern beruht. Im Mittelpunkt stehen Graf Anton II. von Aldenburg, der von April bis Anfang Juni 1738 Briefe an seine Tochter Charlotte Sophie schreibt, und Maria Rampendahl, eine Frau, die in ihrer Heimatstadt Lemgo als Hexe beschuldigt und gefoltert wurde.

Der Roman besteht aus 27 „Kapiteln“: Das sind einmal die Briefe Antons und zum anderen – mit ihnen ziemlich regelmäßig abwechselnd – kursiv gedruckte Texte, die aus verschiedenen Perspektiven eindrucksvoll über das Schicksal der Maria Rampendahl berichten. In Lemgo wurden nach dem Dreißigjährigen Krieg 272 Frauen und Männer als Hexen gefoltert und hingerichtet. In dieser Stadt zeigte sich auf besonders erschrekkende Weise, zu welchen Wahnideen Menschen in der Lage sind, wenn sie für ihre Krankheiten und ihre Not, ihren „Kummer“, wie Maria sagt [39], Erklärungen und Verursacher suchen. Es war ja eine Zeit, in der die Medizin noch ganz andere Vorstellungen vom Körper, seinen Organen und seinen Gefährdungen pflegte, als wir das heute tun. Der Barbier rasierte nicht nur, sondern zog auch Zähne und versorgte Wunden. Er war – wie Marias Mann – gleichzeitig „Chirurg“, ein Handwerker. Man wusste auch noch nichts von Krankheitserregern wie Bakterien oder Viren, Kenntnisse über die Wirkung von Kräutern wurden regelmäßig als Geheimwissen weitergegeben [157]; alle Erklärungen waren religiös grundiert. Maria Rampendahl war 1681 in Lemgo die letzte in der Reihe der Beschuldigten. Sie überlebte die nicht mehr mit „letzter Härte“ [G. Wilbertz] durchgeführte Folter, musste aber Lemgo verlassen und landete nach einer zweijährigen Irrfahrt mit ihrer Familie schließlich in Varel, der Heimat ihres Ehemannes Hermann Harmsen. Der – und das war damals außergewöhnlich – hatte treu zu ihr gehalten, auch wenn im Kapitel „Maria vor Varel“ [147ff] daran bei Maria Zweifel aufzukommen scheinen.

Maria, ihren Mann, ihre Kinder, Folter und Flucht gab es wirklich. Deshalb würde der interessierte Leser sicherlich gerne wissen, wie zuverlässig die kursiv gedruckten Abschnitte über Maria Rampendahl die „Dokumente aus dem Stadtarchiv Lemgo“ wiedergeben, auf die Engstler am Schluss [181] verweist.

Das Schicksal des Grafen verbindet sich im Roman mit dem der Maria, als er 1683, im Alter von zwei Jahren, gefährlich erkrankt. Der Chirurg Harmsen rettet das Kind mit einem geheimnisvollen Pulver, das Maria angefertigt hat, und das „wie ein Zauber“ [157] wirkt. Maria selbst besucht den kleinen Anton heimlich und wird dabei von seiner Mutter Charlotte Amélie, Prinzessin de la Trémouille, entdeckt. Maria beschuldigt sich zunächst selbst als Giftmischerin [158]; die Prinzessin trinkt dennoch ein Gebräu aus Kräutern, die Maria mitgebracht hat, und beweist so ihr Zutrauen in die Fremde. Mit einem Kuss auf den Mund von Charlotte Amélie demonstriert Maria ihre menschliche Gleichrangigkeit, ist aber anscheinend tief enttäuscht, als diese mit dem kleinen Anton vor den Dänen, die es nach dem plötzlichen und geheimnisvollen Tod von Anton I. auf die Herrlichkeit Varel abgesehen haben, nach Doorwerth flüchtet [165, 172].

Anton II. kehrt 1706, im Alter von 25 Jahren, nach Varel zurück, um seine Herrschaft anzutreten. Durch Zufall stößt er auf ein rätselhaftes Gemälde von Maria, verliert es dann aber wieder aus den Augen, bis er es 1738 in einer Kiste mit Bildern, die verkauft werden sollen, wieder entdeckt [12]. Seine Tochter Charlotte Sophie zeigt Interesse an seinen Schilderungen und so kommt Anton II. immer wieder in seinen Briefen auf das Bild und die Frau, die es zeigt, zu sprechen. Ein über dreißig Jahre altes Schreiben seiner Mutter, das er in Auszügen wiedergibt, hilft ihm dabei herauszufinden, dass hier seine mysteriöse Lebensretterin dargestellt ist.

Für den Leser stellt die Lektüre eine Herausforderung dar, denn er muss nicht nur den Wechsel zwischen den Briefen und den Dokumenten, die Maria betreffen, mitvollziehen, sondern steht auch vor der Aufgabe, die in den Briefen angesprochenen Ereignisse, etwa den mysteriösen Tod Anton I. (1681), die darauf folgenden Übergriffe des dänischen Gesandten Gyldenlöwe, die Krankheit und Flucht des kleinen Anton II. mit seiner Mutter (1683), die Rückkehr nach Varel und die erste Entdeckung des Bildes von Maria (1706), die zweite Entdeckung des Gemäldes 1738, zeitlich zu ordnen und mit dem Schicksal Marias zu verknüpfen (Folter 1681, Begegnung 1683, Tod 1705). Eigentlich muss der Leser sich eine Zeittafel anlegen, will er den Überblick behalten.

Ein zweites Problem ist die Darstellung der historischen Figuren. Wer das großartige Buch von Hella S. Haasse über Charlotte Sophie von Aldenburg-Bentinck, „Ich widerspreche stets“, auf das Engstler selbst im abschließenden Kapitel „Dank“ hinweist, kennt, wird nicht nur von der Charakterisierung Anton II. irritiert sein. Auch Hella Haasse nennt ihre Erzählung einen „Roman“, betont aber im Nachwort, dass ihre Darstellung „als Ganzes auf authentischen Dokumenten und Briefen“ fußt [Rowohlt Verlag, 1997, S. 439]. Ihre Eingriffe, Kürzungen und Zusammenfassungen sind vorwiegend redaktioneller Art. Ein Vergleich der „Selbstbeschreibung“ bei Engstler [17-19] mit der bei Haasse [18-21] zeigt, dass Anton II. bei aller Selbstkritik sich doch wesentlich positiver sah, als Engstler das darstellt. Insbesondere steht er „fest in (s)einem Glauben“ [Haasse, 21]; das passt auch zu seiner Deutung der verheerenden Weihnachtsflut von 1717 als Gottesgericht [s. Anton II. – jetzt als erwachsener Mann 3 Friebo 4/2019]. Bei Engstler hingegen erscheint Anton II. als moderner Zweifler: „Der Glaube hilft mir nicht…“ [19].

Es ist auch unglaubwürdig, wenn Anton beispielsweise seiner adelsstolzen Sophie erklärt, dass die Mutter ihres Mannes Willem die „Lady Portland“ ist [7], oder die Umstände der Flucht von 1683 so darstellt, als ob Charlotte Sophie noch nie davon gehört hätte. Natürlich kennt Sophie die Verdächtigungen gegen den Arzt Ringelmann, der nach Meinung ihrer Großmutter Charlotte Amélie deren Mann Anton I. vergiftet haben soll. Wieso ausgerechnet Ringelmann dann die Dokumente über Maria Rampendahl gesammelt hat, bleibt genauso unklar, wie die Weigerung Anton II., diese Dokumente zu lesen [175/176]. Den Maler Helmbach [165ff, 176] gab es wirklich, er malte auch Bilder in dem geschilderten Stil, starb aber schon 1678, konnte also Maria nicht dargestellt haben.

Die meisten Probleme sind der Erzählkonstruktion geschuldet, nach der die für den Leser wichtigen Informationen ja in den Briefen Antons wiedergegeben werden müssen. Hella S. Haasse hatte hingegen keinerlei Hemmungen, sich als Erzählerin zu bekennen, die ihr vielfältiges Material ordnet und präsentiert. Sie scheute sich auch nicht, im Anhang noch einmal eine „Alphabetische Liste der Personen“ [443-447] vorzulegen, um dem Leser die Orientierung zu erleichtern.

Insgesamt: Es lohnt sich für Vareler, Engstlers Roman zu ihrer „Phantasie“ und ihrem „Herzen sprechen“ zu lassen [Klapptentext], aber sie sollten ihn nicht mit den historischen Fakten verwechseln. Und besonders ergiebig wird die Lektüre, wenn man Hella S. Haasses Roman, den man noch preiswert antiquarisch erwerben kann, parallel liest.

Rainer Urban