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Stadtführungen sind nicht nur für Besucher, sondern auch für Einheimische interessant, denn sie können uns die Augen öffnen für das, was wir im Rahmen unserer Alltagsgeschäfte nicht (mehr) wahrnehmen und als selbstverständlich ignorieren. Das gilt natürlich auch für Varel.

Wer unsere Stadtautobahn, die Bürgermeister-Heidenrich-Straße, am Rathaus in Richtung Innenstadt verlässt, wird die Schlosskirche und den Schlossplatz nicht übersehen. Sie zeugen davon, dass Varel eine Siedlung ist, die es seit mindestens 900 Jahren gibt. Doch das Schloss, von dem der Platz seinen Namen hat, ist bis auf klägliche Reste verschwunden. Varel, seit 1858 Stadt 1. Klasse, hat es Ende der 1860er Jahre abreißen lassen. Für seine Bürger war die steinerne Erinnerung an die rund 200 Jahre dauernde Geschichte der Vareler Grafen offensichtlich weniger wichtig als die Betonung der neugewonnenen städtischen Selbständigkeit. Die beruhte vor allem auf der Bedeutung, die die Vareler Industrie im 19. Jahrhundert gewonnen hatte.

Deshalb ist es richtig und verdienstvoll, dass es jetzt Führungen gibt wie die von Helga von Eßen und Karl-Heinz Martinß „zu historischen Industriestandorten in Varel“. Die beiden berichteten über ihre 60 bis 90 Minuten dauernden Fahrradtouren im Rahmen einer gut besuchten Vortragsveranstaltung des Vareler Heimatvereins. Als Informations-quelle dienten vor allem Bücher von Prof. Wilhelm Janßen, etwa die zur städtebaulichen Entwicklungsgeschichte aus den 1980ern oder der hier für das Thema besonders wichtige Band „Vareler Gewerbebetriebe 1800 bis 1930“ aus dem Jahre 2007.

Ausgangspunkt der Führung ist der Schlossplatz mit seiner noch weitgehend erhaltenen gründerzeitlichen Rand-bebauung. Von da geht es in die Lange Straße; die vor dem Bau der Bürgermeister-Heidenreich-Straße die Haupt-verkehrsachse in Ost-West-Richtung war. Das Haus „Lange Straße 2“ entstand allerdings schon vor 1775 – also noch vor der Industrialisierung Varels – als Handelshaus mit großen Kornböden, von denen noch heute der barock ver-zierte Giebel zeugt. Schon damals gab es eine Schiffsanlegestelle am Jadebusen, die den Export von landwirt-schaftlichen Produkten nach England und den Import von Industriegütern ermöglichte.

Etwas weiter auf der Langen Straße, gegenüber der „Alten Schmiede“, befand sich seit 1822 auf einem Gelände, das heute die Heidenreich-Straße überquert, die Färberei und Handweberei von Heinrich Albert Rabe. 1839 gründete er mit dem Kaufmann Ruschmann wenige Meter weiter eine mechanische, von einer Dampf-maschine angetriebene Weberei und Spinnerei. An Stelle der Handweberei entstand in den Jahren nach 1861 die „Leder- und Treibriemenfabrik Schwabe“. Von diesen Fabrikgebäuden ist heute nichts mehr vorzufinden, aber wenigstens markiert noch das Wohnhaus „Lange Straße 18“, das der für die Vareler Entwicklung so wichtigen jüdischen Familie Schwabe gehörte, die nördliche Begrenzung des Geländes.

Weitere repräsentative Wohnhäuser wichtiger Vareler Fabrikanten, etwa der HansaDirektoren Allmers und Sporkhorst, stehen in der Windallee. Auf dem Gelände zwischen der Windallee und der Oldenburger Straße befand sich die Weberei Tameling & Stöve, 1977 endgültig aufgegeben, heute ein kleiner Park mit Vereins- und Jugendzentrum. Vorbei am Gebäude „Hotel Ebolé“, das Anfang des 19. Jahrhunderts eine Essigfabrik beherbergt haben soll, führt die Tour Richtung Osterstraße, wo in der Verlängerung des Bleichenpfades, heute „Dompfaffstraße“, die Fabrik Twenhöfel stand. Sie stellte zunächst Holzschuhe, später patentierte Wäscheklammern her.

Über die Heidenreich- und die Elisabethstraße hinweg geht es durch den Seilerweg – der Name verweist auf das hier einmal ansässige Gewerbe – Richtung Hansa-Straße, wo wir die seit 1887 existierende Fabrik für Schneidemaschinen Winicker & Lieber finden. Sie steht im Schat-ten des verfallenden Hansa Gebäudes, in dem einmal bis zur Weltwirtschaftkrise Autos hergestellt wurden. Eigentlich handelt es sich um ein unve-rzichtbares Denkmal der Vareler Industriegeschichte; jetzt ist es eines für die möglichen Folgen der Spekulation mit Immobilien.

Zurück führt der Weg durch die Neumühlenstraßen und die Nebbsallee vorbei an der „Börse“, schon 1812 als Clubhaus Vareler Gewerbetreibender und Freimaurer gebaut, wieder zum Schlossplatz.

Diese Tour kann selbstverständlich nur einen kleinen Ausschnitt aus der Vareler Industriegeschichte vergegen-wärtigen. Vielleicht ist es möglich, sie auszuweiten oder bei der Vielzahl der Objekte in mehrere Führungen zu unterteilen und dabei die heute (noch) bestehenden Vareler Unternehmen mit einzubeziehen. Industriegeschichtlich spannend wären Antworten auf die Frage, ob und wie frühere Standortentscheidungen sich bis in die Gegenwart auswirken, etwa weil es hier Arbeitskräfte, Kapital, Knowhow oder die nötige Infrastruktur gab. Aber ein Anfang ist gemacht; das Publikum belohnte ihn mit freundlichem Applaus.

Rainer Urban