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Vor hundert Jahren warb der Vareler Lehrer für Literatur und Landschaft Islands Wer ist Carl Küchler? Carl Küchler war der Mann, der als einer der Ersten den Deutschen den Weg nach Island wies. Und Ulrich Müller aus Braunschweig ist derjenige, der vor den Gästen des Heimatvereins Varel die Erinnerung an den bei uns weitgehend in Vergessenheit geratenen Küchler wieder beleben möchte. Nach eigenem Bekunden war es sein erster Vortrag vor größerem Publikum überhaupt. Warum in Varel? Weil Küchler in Varel viele Jahre gelebt und an der Landwirtschaftsschule als Lehrer gearbeitet hat.

Der Reihe nach: Küchler wurde 1869 als erstes von elf Kindern in Stollberg geboren, besuchte zunächst die Bürger-, dann die neu gegründete Realschule der Stadt und im Anschluss die berühmte Fürsten- und Landesschule St. Augustin in Grimma. Offenbar hatte er ein Talent und den Fleiß für das Erlernen auch schwieriger Fremdsprachen. Von Grimma ging er 1890 nach Kopenhagen zum Studium der Germanistik und Skandinavistik, das er 1892 mit einer Doktorarbeit über die Geschichte der Faustsage – auf Dänisch! – abschloss. Bis dahin hatte er schon einige Artikel veröffentlicht und im Selbstverlag ein Buch mit „Anekdoten aus dem Leben [Kaiser] Wilhelms des Siegreichen“ herausgebracht, daneben die Novelle „Das Liebesheim“ von G. Palsson ins Deutsche übersetzt. 1893 wurde er Redakteur im Verlag Baedeker in Leipzig und nutzte sein erstes festes Einkommen, um zu heiraten. Parallel dazu arbeitete er weiterhin als Übersetzer aus den skandinavischen Sprachen und veröffentlichte 1896 den ersten Band seiner „Geschichte der Isländischen Dichtung der Neuzeit (1800 – 1900)“. 1899 zog Küchler mit seiner Familie nach Varel, um hier an der Großherzoglichen Landwirtschaftsschule als Lehrer für deutsche und englische Sprache zu arbeiten. Gleichzeitig betreute er weiterhin für Baedeker den Reiseführer für Norwegen und Schweden, veröffentlichte weitere Übersetzungen und brachte 1902 den zweiten Band zur Geschichte der Isländischen Dichtung heraus. 1905 bekam er das Angebot, für diesen Reiseführer einen Anhang über Island zu verfassen, denn die Hamburg-Amerika-Linie steuerte nun auch diese Insel für Vergnügungsreisende an. Küchler durfte sie im Auftrage Baedekers besuchen. Das Material, das er hier sammelte, war so umfangreich, dass es für ein eigenes Buch „Unter der Mitternachtssonne durch die Vulkan- und Gletscherwelt Islands“ reichte. Bis zum Beginn des I. Weltkrieges unternahm Küchler vier weitere Reisen, zu denen er noch drei Bücher veröffentlichte. 1919 wurde er pensioniert, 1945 starb er in Stollberg.

Leider zählte unser Referent die Vielzahl der Bücher, die Küchler veröffentlichte, nur auf. Was diesen Mann daran reizte, sich mit der neueren isländischen Literatur zu beschäftigen, und warum er dafür auch die Deutschen gewinnen wollte, wurde nicht thematisiert. Es blieb auch völlig unklar, wie ein vollbeschäftigter Lehrer so umfangreiche „Nebentätigkeiten“ bewältigen und warum er schon mit fünfzig Jahren pensioniert werden konnte. Die Landwirtschaftsschule war ja ein Nebenzweig der Höheren Lehranstalt Varel, entstanden zunächst als „Seitentrieb“, später als zeitweilige, unzureichende Kompensation für die aufgelöste Realschule. Küchler muss als Lehrer in alle diese Auseinandersetzungen um die Vareler Schulpolitik mit verwickelt, zumindest aber von ihnen betroffen gewesen sein.

Im zweiten Teil seines Vortrags beschäftigte sich Referent Müller vor allem mit der ersten Reise Küchlers nach Island, die er selbst Ende der 1990er wiederholte. Natürlich ist Island heute durch Autostraßen erschlossen, man muss nicht mehr wie Küchler mit zwei Reitpferden und einem Packpferd pro Person reisen. Und es ist reizvoll, die Bilder, die Küchler in den Jahren vor dem I. Weltkrieg auf Island machte, mit den Farbfotos von heute zu kontrastieren, die von U. Müller aus ähnlicher Perspektive angefertigt wurden. Island hat eine Landschaft, die durch Vulkane, Felsen, Eis, Wasser und Wind geprägt wird. Wasserfälle und Geysire bilden dementsprechend reizvolle Ausflugsziele. Dort, wo es Pflanzen gibt, sieht man eine weite, zumeist baumlose von Moosen, Flechten und Gräsern bestimmte Flächen. Der Wald, der einstmals ein Viertel der Insel bedeckte, überlebte die Rodungen der Wikinger nur noch in winzigen Restbeständen. „Diese Insel ist ökologisch das am stärksten geschädigte Land Europas“ (J. Diamond). Die Traditionen und die Politik der Isländer lassen sich nur vor diesem Hintergrund verstehen. Ob sich allerdings Küchler mit solchen Themen beschäftigt hat, das wurde im Vortrag nicht behandelt. Unser Referent präsentierte eine Überfülle an Fotos mit großer Geschwindigkeit und schon deshalb unzureichenden Erläuterungen – ein Dia-Abend unseligen Angedenkens. Das ist schade, denn Carl Küchler scheint ein gelehrter und unglaublich produktiver Mann gewesen zu sein, mit dem sich eine nähere Beschäftigung durchaus lohnt. Fazit: Viel interessantes Material, das aber noch der publikumsgerechten Durchdringung und Aufbereitung bedarf.

Rainer Urban