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Mitarbeiter des Niedersächsischen Instituts für historische Küstenforschung (NihK) waren schon oft – besonders im Jubiläumsjahr 2013 – Referenten vor den Mitgliedern und Gästen des Vareler Heimatvereins. Und das ist auch gut so, denn das worüber sie berichten, ist für das ungeübte Auge heute meist nicht mehr so leicht zu erkennen, seit die Menschen vor rund 1000 Jahren begannen, mit Hilfe von Deichen und Entwässerungsgräben die Landschaft an der Nordseeküste grundlegend umzugestalten und für ihre Zwecke herzurichten. In den Jahrtausenden davor aber mussten sie sich den natürlichen Gegebenheiten anpassen. Wie diese Landschaft aussah, wie die Menschen in ihr gelebt und welche methodischen Möglichkeiten wir heute haben, um das überhaupt herauszufinden: Das waren die Schwerpunkte in dem faktenreichen Vortrag über „Das Meer und der Mensch – Archäologie und Geologie des Jaderaums“ von Ingo Eichfeld.

Der geologisch älteste Naturraum in unserer Region ist die Geest (auf der Karte gelb), geformt von den Eiszeiten, zuletzt der Weichsel-Eiszeit. Sie endete vor gut 10000 Jahren, hinterließ vor allem Sand, Lehm und Steine und eine Landschaft, die an das heutige Sibirien erinnert. Der Meeresspiegel war um rund 130 Meter abgesunken, eine Nordsee gab es nicht mehr, die britischen Inseln gehörten zum Festland. Die Neandertaler waren schon lange ausgestorben, unsere Vorfahren kamen als Jäger und Sammler. Es wurde verhältnismäßig schnell wärmer, das Eis schmolz, das Meer kam zurück. Die Nordsee näherte sich vor rund 8000 Jahren der heute noch bestehenden Küste, der Urjadebusen (und die Ostsee) entstand. In den folgenden Jahrtausenden verlangsamte sich der Anstieg des Meerespiegels. Der Klimawandel ist nichts Neues, die Menschen mussten sich anpassen, sie wichen dem Wasser aus oder sie folgten ihm. Aus dem Küstenstreifen, der mehr oder weniger regelmäßig überflutet wurde, entstand die Marsch, zwischen der Geest und der Marsch bildeten sich dort, wo das Wasser nicht abfließen konnte, riesige Moore. Da sich der Anstieg und der Rückgang des Meerespiegels mehrfach –wenn auch „nur“ im Bererich weniger Meter – wiederholte und damit die Küstenlinien, die Marsch- und die Moorgebiete verschoben, überlagerten sich hier die Schichten von Sand, Klei und Torf. Mit Hilfe von Bohrungen und Grabungen lassen sich dem Boden die Geheimnisse der Klimageschichte entlocken.

Vor etwa 6000 Jahren tauchten die ersten Viehzüchter und Bauern in unserer Region auf. Sie bewahrten ihre Lebensmittel in Keramikgefäßen auf und errichteten Großsteingräber. Mit Hilfe unterschiedlicher Verzierungen auf den Gefäßen und unterschiedlicher Bestattungsriten können wir auch verschiedene Kulturen unterscheiden. In der Marsch liegen Relikte aus dieser Zeit besonders tief im Boden verborgen und werden dementsprechend selten gefunden.

Um 1600 v. Chr. setzte sich mit der Bronze ein neuer Werkstoff durch. Wie die Menschen lebten, zeigen die Ausgrabungen bei Rodenkirchen und die sich darauf stützende Rekonstruktion eines Bronzeithauses. Das Wasser zieht sich über Jahrhunderte hinweg zurück, die Moore dehnen sich aus. Aus dieser Zeit stammen die Reste der Bohlenwege, z. B. auch zwischen Büppel und Jethausen (vgl. die roten Lnien in der Karte).

Um Christi Geburt sinkt der Meerespiegel für rund einhundert Jahre. Die Menschen folgen dem Wasser, die Marsch wird dichter besiedelt – und als das Wasser wieder höher aufläuft, reagieren sie mit dem Bau von Wurten. Weil wir uns jetzt in der römischen Kaiserzeit befinden, gibt es mit dem Bericht von Plinius in seiner „Naturalis Historia“ auch ein erstes schriftliches Zeugnis über die Erdhügel und das „beklagenswerte Volk“, das auf ihnen leben muss. Mit den Römern wurde aber auch gehandelt, wie z. B. römische Handdrehmühlen aus Basaltlava oder der Münzschatz, der in Jever gefunden wurde, zeigen.

Aus der Völkerwanderungszeit gibt es kaum Funde und wie es um die vermutete Auswanderung der Wurtenbewohner nach England und den Wechsel der Stämme von den Chauken über die Sachsen zu den Friesen steht – all das scheint nicht so klar, wie es zeitweise gedacht wurde. Das letzte Projekt des NIhK, an dem unser Referent Eichfeld beteiligt ist, fragt nach Handelsplätzen und -routen an den Küsten im 8. bis 10. Jahrhundert. Die Untersuchungen am Woltersberg in Jever, das damals noch einen Wasseranschluss an die Nordsee hatte, gehören in diesen Zusammenhang.

Die Bilder, die sich die Archäologen – und wir in ihrem Gefolge – von den Vorgängen in vorgeschichtlicher Zeit machen, sind Ergebnis eines Puzzles, bei dem viele Teile fehlen. Die Forscher tragen in aufwendiger Recherche zusammen, was es an Funden, zugehörigen Ortsangaben und Datierungsvorschlägen gibt, graben und suchen soviel wie möglich selbst und versuchen, die Ergebnisse zu deuten. Immer spielt bei dieser Arbeit der „Geist der Zeit“ eine Rolle, wie R. Engel in ihrem Aufsatz über „Die Archäologie und der Germanenkult“ (in: U. Meiners (Hg.), Suche nach Geborgenheit – Heimatbewegung in Stadt und Land Oldenburg, Isensee 2002) zeigt. Ein Vortrag, der – an die Ausführungen unseres Referenten Eichfeld anschließend – den Wandel dieser Vorstellungen vom Leben der Menschen an der Küste nachzeichnet, wäre eine interessante Herausforderung – und das nicht nur für die Archäologen.

Rainer Urban