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Wenn Bodo von Pape über Diedrich – oder Diederich? – Uhlhorn vor den Gästen des Heimatvereins in Varel berichtet, dann spricht ein in Bockhorn geborener Mathematiker mit Begeisterung über einen weiteren „mathematischen Kopf“ aus Bockhorn, auch wenn der schon lange tot ist. Uhlhorn wurde 1764 geboren, ein Jahr nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges in eine Zeit, in der in England mit der Industriellen Revolution ein grundlegender, bis in die Gegenwart reichender und sich zunehmend beschleunigender Wandel der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse eingeleitet wurde.

Der Sohn eines Tischlers besuchte die für heutige Verhältnisse grotesk überfüllte Dorfschule; ihr vorwiegend auf religiösen Drill ausgerichteter Unterricht konnte ihn nicht zufriedenstellen. Es ist für uns kaum noch nachzuvollziehen, wie er sich selbst mit Hilfe eines Lehrbuches des Philosophen Christian Wolff über die „Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften“ fundierte theoretische Kenntnisse aneignete. Sie ermöglichten ihm, Luftpumpen, Sonnenuhren und vor allem achromatische Fernrohre herzustellen, die nach von Pape den Vergleich mit denen des Bayern Fraunhofer nicht zu scheuen brauchten. Seinem Vater gefiel das gar nicht, er enterbte den Sohn, der in Bockhorn statt einer Tischlerei eine Werkstatt für optische und mathematische Instrumente einrichtete. Aber wer waren die Kunden, die diese Geräte kauften? Sie konnten eigentlich nur zu der aus dem Vortrag von A. Sander 2011 bekannten, von den Entwicklungen in England und seinem Umfeld profitierenden, „international“ ausgerichteten „bürgerlich-bäuerlichen Elite aus den Marschgebieten“ gehören. 1796 besuchte der Oldenburger Jurist und Schriftsteller Gerhard Anton von Halem den Instrumentenbauer in Bockhorn und war begeistert. Vermutlich war er es, der Herzog Peter Friedrich Ludwig dazu brachte, ein Fernrohr zu erwerben und ihn 1797 zu seinem „Hofmechanikus“ zu machen.

1802 übersiedelte Uhlhorn mit seiner Familie nach Oldenburg, weil er dort einen besseren Zugang zur Fachliteratur und zu anregenden Gesprächspartnern fand. Er hatte aber auch da schon Kontakte ins Rheinland, entwickelte Maschinen für die Textil- und Tabakindustrie und optimierte die Form der Zahnräder bei der Kraftübertragung der Windmühlen, wofür er 1804 einen Preis der „Hamburgischen Gesellschaft für Kunst und Gewerbe“ gewann. Dabei ging er nicht nur experimentell vor, sondern fundierte seine Erfindungen mit geometrischen Herleitungen. Vor diesem Hintergrund entstand das Werk „Entdeckungen in der höheren Geometrie, theoretisch und practisch abgehandelt“, in dem Uhlhorn aus der Antike stammende klassische Probleme wie die „Verdoppelung des Würfels“ aufgriff. Das Problem selbst ist leicht zu verstehen: Wenn ein Würfel die Kantenlänge „a“ hat, dann ist sein Volumen a*a*a, also a3 , das doppelte Volumen 2a3 , die neue Kantenlänge „b“ also . Es geht darum, die Kubikwurzel zu ziehen. Uhlhorn suchte hier eine geometrische Antwort und er fand sie in der „Ophiuride“, 2 der „Schlangenschwanzlinie“. Seine Leistung bei der Lösung Jahrtausende alter Probleme ist mehr als außergewöhnlich. Bodo von Pape bemühte sich redlich, sie seinen Zuhöreren zu vermitteln, aber zumindest dem Rezensenten blieb die genaue Funktionsweise der „Ophiuride“ trotz aller Skizzen ein Buch mit sieben Siegeln. Eine nachvollziehbare Darstellung im Rahmen eines Vortrags hätte deutlich mehr – zuviel – Zeit für die Beschreibung der mathematischen Probleme, ihrer Voraussetzungen wie der Lösungsschritte gebraucht. Immerhin gab es vor 200 Jahren nach der Veröffentlichung 1809 einige Besprechungen in überregionalen Zeitschriften, die Uhlhorns Beitrag würdigten. Dennoch geriet der „Mathematiker“, der die Ansätze der Antike vor ihren Kritikern in der Neuzeit retten wollte, gegenüber dem Techniker und Erfinder weitgehend in Vergessenheit.

1810 nutzte Uhlhorn die Vorteile, die die französische Besetzung des Rheinlandes unter Napaoleon der aufstrebenden Textilindustrie bot und zog nach Grevenbroich – ausgesprochen „Grevenbroooch“ – um. Zunächst war er technischer Leiter einer Baumwollspinnerei; bald sorgte er mit eigenen Unternehmen für die Herstellung und Reparatur der zugehörigen Maschinen, von denen er einige – etwa die „Kratzenmaschine“ zur Aufrauhung der Baumwolle – neu erfand. Die Hebelgesetze nutzte er in der Variante eines „Kniehebels“, wie wir ihn z.B. von wiederverschließbaren Bierflaschen kennen, um eine neuartige und sehr erfolgreiche Münzpresse herzustellen.

Diedrich Uhlhorn aus Bockhorn verstand es, seine überragenden praktischen und theoretischen Fähigkeiten zum eigenen wie zum gesamtgesellschaftlichen Nutzen einzusetzen und dabei in Grevenbroich reich zu werden. Er starb 1837. Wer seine Biographie genauer studiert, kann auch den gesellschaftlichen Umbruch und den Anbeginn einer neuen Zeit um 1800 besser verstehen. Bodo von Pape hat mit Recht unsere Aufmerksamkeit auf ihn und insbesondere seine Oldenburger Zeit gelenkt.

Rainer Urban