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Was geht uns heute noch Bismarck an? Der Mann, geboren 1815, gestorben 1898, ist doch ganz und gar eine Figur des 19. Jahrhunderts, oder etwa nicht? In Varel können wir zwar auf dem Hof des Lothar-Meyer-Gymnasiums eine „Bismarckeiche“ bestaunen, die 1895 anlässlich der Feiern zum 80. Geburtstag bei der gerade wieder neu errichteten Bürgerschule gepflanzt wurde. Und dann gibt es noch in unmittelbarer Nähe die „Bismarckstraße“, die ein paar Jahre später zwischen der Mühlen- und der Neumühlenstraße entstand und nach dem „Reichsgründer“ benannt wurde. Allerdings fällt diese Widmung in die Zeit einer völlig übersteigerten Bismarck-Verehrung – und daraus lässt sich dann doch etwas lernen, wie A. v. Seggern, der Leiter des Stadtmuseums in Oldenburg, vor Mitgliedern und Gästen des Heimatvereins in seinem Vortrag über „Bismarck und Oldenburg“ zeigte.

Als Bismarck sich nach der Revolution von 1848 entschied, Berufspolitiker zu werden, wandelten sich die sozialen und politischen Verhältnisse in Europa rasend schnell; sie blieben für die meisten Untertanen auf verwirrende Weise unübersichtlich. Das Großherzogtum Oldenburg war eine Enklave im Königreich Hannover und die Herrschaften Varel und Kniphausen bildeten wiederum staatsrechtlich gesonderte Inseln im Oldenburger Land. Die Vareler und englischen Angehörigen der Familien v. Aldenburg-Bentinck befanden sich in einem langdauernden Erbfolgestreit. Er wurde dadurch „gelöst“, dass Oldenburg das Gebiet des späteren Wilhelmshaven an Preußen verkaufte, mit dem so gewonnenen Geld 1854 die streitenden Bentincks abfand und die „Herrlichkeiten“ übernahm. Damit standen die Preußen vor der Oldenburger Haustür und das Großherzogtum versuchte mit einer Strategie der Anlehnung an den großen Herausforderer so viel Selbständigkeit zu wahren wie nur möglich.

Der preußische König ernannte 1862 mit Bismarck einen Ministerpräsidenten; der die Politik programmatisch am „Egoismus“ seines „großen Staates“ ausrichtete. Das zwang das kleine Großherzogtum zu einem delikaten Balance-Akt, als Bismarck die Schleswig-HolsteinFrage für seine Ziele instrumentalisierte. Gegen den Durchmarsch preußischer Truppen durch das oldenburgische Fürstentum Lübeck im deutsch-dänischen Krieg 1864 blieb nur symbolischer Protest, zumal Großherzog Nikolaus Friedrich Peter selbst Erbansprüche auf SchleswigHolstein erhob. Auch im Deutschen Krieg gegen Österreich zwei Jahre später hielt sich Oldenburg auf der preußischen Seite und sicherte so weiterhin – anders als etwa Hannover – seine relative staatsrechtliche Autonomie. Dass Bismarck das wirklich mit einem „Ja, leider“ kommentierte, ist nicht zweifelfrei belegt.

Obwohl Oldenburg selbst eine vergleichsweise liberale Innenpolitik betrieb, wehrte sich der Großherzog gegen Bismarcks Pläne, den Reichstag des neu entstandenen Norddeutschen Bundes wie drei Jahre später den des Deutschen Reiches nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht wählen zu lassen; er sah darin „das Gespenst einer heillosen Demokratie“. Bismarck antwortete, er könne „kaum glauben, daß die isolierte Vertretung partikularistischer Bedenken durch Oldenburg den Intentionen seiner Königlichen Hoheit entspricht.“ Was blieb dem Großherzog anderes, als sich mit den neuen machtpolitisch bestimmten Verhältnissen zu arrangieren?

Immerhin hielt Oldenburg auch nach der Reichsgründung an dem Grundsatz, „geistige Bewegungen sind nicht mit der Polizei zu bekämpfen“, fest, beteiligte sich nicht am „Kultur- kampf“ gegen die Katholiken, setzte nur sehr zurückhaltend die Sozialistengesetze um und wehrte sich – wenn auch erfolglos – gegen die Einführung von Schutzzöllen. Kein Wunder, dass Bismarck die Oldenburger für „stur“, zugleich aber für politisch irrelevant hielt.

Wenn man nach der Haltung der Oldenburger Bürger zu Bismarck fragt, so bietet sich nach Referent v. Seggern eine grobe Dreiteilung an: Bewunderung im evangelischen Norden, Respekt in der Residenzstadt, Abneigung im katholischen Süden. Allerdings sei die Quellenlage für das Großherzogtum vergleichsweise dünn, so dass für eine Deutung des sich ausbildenden Kults um Bismarck ein Blick über die Grenzen notwendig werde. BismarckVerehrer fanden sich vor allem in den Milieus der Akademiker, Beamten und Offiziere, der Bourgeoisie und Kleinbürger, sofern sie nicht katholisch waren, doch kaum unter den Arbeitern. Schon zu den Feiern des 80. Geburtstages 1895, mehr noch nach seinem Tode 1898 nahm die quasireligiöse Idolisierung groteske Ausmaße an. Das Bedürfnis nach geweihten Orten schlug sich deutschlandweit in über 500 Denkmälern, Feuersäulen und Türmen zu Ehren Bismarcks nieder. Im Großherzogtum gab es die „Getreuen von Jever“ mit ihren Kiebitzeiern, ansonsten aber blieb es zumeist bei der Widmung von Straßen, Plätzen und Eichen, so wie in Varel. Vereinzelte weitergehende Pläne scheiterten, etwa auf dem Bookholzberg in Ganderkesee. Noch, so dürfen wir als Zuhörer Referent v. Seggern weiter denken, gab es für die meisten Oldenburger trotz allen sozialen Wandels Grenzen bei der Suche nach säkularen Heiligen. Knapp fünfunddreißig Jahre später wählten sie dafür als erste einen nationalsozialistischen Ministerpräsidenten.

Dr. A. v. Seggern erhielt seinen verdienten Applaus.

Rainer Urban