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Wer von uns kennt nicht das niederschmetternde Gefühl, bei der Bewältigung einer Aufgabe an die Grenzen des eigenen Verstandes zu stoßen? Noch viel beindruckender – und vielleicht auch deprimierender – ist es, wenn man nicht einmal mehr die Aufgaben versteht, die ein anderer offenbar mühelos bewältigt. Wohl jedem, der sich mit Carl Friedrich Gauß beschäftigt, bleibt im Ergebnis nichts anderes als die vorbehaltlose Bewunderung für die Fähigkeiten, die dieser Mann in den Bereichen der Mathematik, der Physik, der Astronomie und Geodäsie (der Wissenschaft von der Vermessung und geometrischen Aufteilung der Erde) ausgebildet hat. Selbst ein berühmter Mathematiker und Astronom wie Laplace soll den damals Vierundzwanzigjährigen im Jahre 1801 als „einen überirdischen Geist in menschlichem Körper“ bezeichnet haben. Der Vermessungsingenieur Prof. Klaus Kertscher unternahm dennoch den Versuch, auf einer vom Heimatverein Varel in Zusammenarbeit mit dem Verein für Kultur und Kunst durchgeführten und gut besuchten Veranstaltung den „wissenschaftlichen Superstar vor 200 Jahren“ seinen Zuhörern nachvollziehbar vorzustellen. Gauß wurde im April 1777 in Braunschweig in einfachen Verhältnissen geboren. Er besuchte 1784 bis 1788 die Volksschule. Sogleich verblüffte er, wie man auch in Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ nachlesen kann, seinen Lehrer, weil er die Aufgabe, die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren, dadurch löste, dass er 50 mal die Summen 1 + 100, 2 + 99, 3 + 98 usw. bildete und so blitzschnell das richtige Ergebnis 5050 erzielte. Wegen seiner unübersehbaren Begabung kam er auf das Gymnasium Catharineum und wurde hier 1791 dem Herzog von Braunschweig vorgestellt, der Gauß von nun an bis zu seinem Tode förderte. Der Herzog ermöglichte auch die Fortsetzung des Gaußschen Bildungsganges im Collegium Carolineum und das Studium von 1795 bis 1798 in Göttingen. Gauß promovierte über den „Fundamentalsatz der Algebra“, bei dem es um die Lösbarkeit bestimmter mathematischer Gleichungen geht, berechnete auf raffinierte Weise 1801 die Bahn des Planetoiden Ceres, und entwickelte 1833 mit seinem Kollegen Weber, einem der Göttinger Sieben, den ersten elektromagnetischen Telegraphen. An dem Protest gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover 1837 beteiligte er sich hingegen nicht. In Varel war Gauß, wie Briefe von ihm bezeugen, im Juni 1825, weil er für das Königreich Hannover fünf Jahre als Landvermesser tätig war. Bei der Vermessung werden bekanntlich Dreiecke gebildet: Wenn man die Länge einer Strecke bestimmt hat, kann man von ihren beiden Endpunkten einen dritten Punkt anpeilen, die Winkel im Dreieck bestimmen und so die Längen der beiden fehlenden Seiten berechnen (Triangulation). Der 10-DM-Schein zeigt auf der Vorderseite das Bildnis von Gauß und auf der Rückseite eine solche Verknüpfung von Dreiecken, von deren Eckpunkten einer auch Varel war. So einfach das auf dem Papier ist, so schwierig war die Umsetzung in die Praxis. Der dritte Punkt musste ja genau erkennbar sein, damit die Winkel möglichst exakt gemessen werden konnten. Gauß entwickelte dazu eigene Verfahren und Geräte, etwa das Heliotrop, mit dem die Sonnenstrahlen so umgelenkt wurden, Abbildung: Deutsche Bundesbank dass eine genaue Peilung über längere Distanzen möglich wurde. Am Ende des Vortrages von Prof. Kertscher zeigte der Mathematik-Lehrer Bultmann mit Hilfe eines vereinfachten Nachbaus und einer Taschenlampe, wie ein Heliotrop grundsätzlich funktioniert.
Gauß wies auch nach, dass die Abbildung der Oberfläche einer Kugel in der Ebene, etwa auf einer Karte, entweder nur die Länge, den Winkel oder die Fläche korrekt wiedergeben kann, nie aber alle drei Größen gleichzeitig. Seine Arbeit als Landvermesser wurde von anderen im Königreich Hannover bis 1844 fortgesetzt und 1866 im Rahmen der mitteleuropäischen Gradmessung wieder aufgenommen. Damals wurden von Dangast aus rund 20 Sterne angepeilt, um präzisere Daten zu bekommen.
Gauß selbst widmete sich bis zu seinem Tode 1855 vor allem der Sternwarte in Göttingen, wo er eine Amtswohnung hatte, in zwei Ehen sechs Kinder zeugte und eine Vielzahl mathematischer und naturwissenschaftlicher Entdeckungen machte. Nicht nur die Universität Göttingen hat Seiten im Internet eingerichtet, die es erlauben, einige seiner Erkenntnisse nachzuvollziehen. Der Roman von Kehlmann war ein Bestseller. Prof. Kertscher beschloss seinen Vortrag mit Bildern von Devotionalien, mit deren Hilfe weniger begabte Menschen dem Genius huldig(t)en: Münzen, Briefmarken, Denkmäler, Werbung. Das Publikum spendete mit Recht für das gut strukturierte Referat reichlich Applaus.

Rainer Urban