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Vortrag zur Geschichte des landwirtschaftlichen Schulwesens

Brauchen Bauern eine Schule? Brauchen sie vielleicht sogar eine eigene Schulform? Wer diese Fragen heute für antiquiert hält, hat natürlich recht. Aber vor zweihundert Jahren sah die Welt noch ganz anders aus. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung war hier wie überall in der Landwirtschaft tätig und die Kinder lernten bei ihren Eltern, was sie lernen mussten. Mehr noch: Ihre Arbeitskraft wurde zu Hause gebraucht. Der Besuch einer Schule, wie ihn die Kirche und der Staat forderten, kostete wertvolle Zeit. Wenn überhaupt, dann war Schule etwas für die Wintermonate. Es dauerte bis Ende des 19 Jahrhunderts, bis in Europa – und da auch noch mit großen regionalen Unterschieden – die allgemeine Schulpflicht weitgehend akzeptiert und durchgesetzt wurde. Vor diesem Hintergrund behandelt ein Vortrag wie der von M. Wefer über „Die Ackerbauschulen zu Neuenburg und Varel“, den er vor Mit-gliedern und Gästen des Heimatvereins Varel hielt, die berufsgruppenspezifische Ausprägung einer allgemeinen Entwicklung.
Dass man in der Schule nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen und – vor allem im Religionsunterricht – „sittliches Betragen“ lernen soll, sondern dass der Unterricht dabei helfen kann, rationeller Landwirtschaft zu betreiben, wurde zuerst von Albrecht Thaer propagiert. Er gründete 1806 eine landwirtschaftliche Akademie auf dem preußischen Rittergut Möglin, die jedoch eher eine Einrichtung für Großgrundbesitzer und ihre Verwalter war. Im Herzogtum Oldenburg gab es nur wenige große Güter, wohl aber „eine sehr große Zahl großer Bauernhöfe“, wie es in einer Denkschrift des Zentralvereins der „Oldenburgischen Landwirtschafts-Gesellschaft“ von 1853 heißt. In seiner Denkschrift forderte der Zentralverein deshalb eine Ausbildung für den landwirtschaftlichen Mittelstand in Acker-bauschulen, die Theorie und Praxis miteinander verband. Sie sollte sich an die Volksschule anschließen und zwei Jahre dauern. Fünf mögliche Standorte für diese Schule wurden näher geprüft, die Entscheidung fiel schließlich für Schloss Neuenburg. Aber erst, als Johann Diedrich Thyen, Lehrer der Ackerbauschule in Esens, im Jahr 1860 einen Plan vorlegte, konnte die Schule 1862 eröffnet werden. Der Plan enthielt ein detailliertes Bildungskonzept und Thyen war bereit, ihn als Direktor an dieser Schule umzusetzen. Für die praktische Seite der Ausbildung gewann er als Partner zunächst den Großbauern v. Negelein, später den Landwirt C. H. Bredenbeck. Die Schule agierte, wie die steigenden Schülerzahlen ausweisen, über ein Jahrzehnt ausgesprochen erfolgreich, auch wenn nur ein Bruchteil der Bauernkinder – Referent Wefer schätzt ihren Anteil auf 5 Prozent – eine solche Schule besuchen konnte. Die Schwie-rigkeiten begannen, als der sogenannte „einjährig-freiwillige Militärdienst“ auch in Oldenburg eingeführt wurde. Damit konnten die Söhne wohlhabenderer Bürger mit Hilfe ihrer zumeist höheren schulischen Abschlüsse den Wehrdienst auf ein Jahr verkürzen. In Varel wurde Mitte der 70er die 1841 gegründete Bürgerschule zur Realschule ausgebaut, die mit ihren Abschlüssen ein solches Privileg vergab. Die Neuenburger Ackerbauschule konnte da nur bedingt mithalten und ihre Schülerzahlen gingen zurück. So entstand der Plan, die Landwirtschaftsschule nach Varel zu verlegen, um durch eine enge Kooperation mit der Realschule, wie man heute sagen würde, „Synergieeffekte“ zu erreichen. Aber diese Hoffnungen wurden enttäuscht: Zu unterschiedlich waren die Voraussetzungen und Erwar-tungen der Schüler und ihrer Eltern, zu begrenzt die Möglichkeiten bei der praktischen Ausbildung der angehenden Landwirte. Da die wirtschaftliche Lage der Stadt Varel in den 80er Jahren nicht einfach war und es vielen Bürgern immer schwerer fiel, das Schulgeld zu bezahlen, während die Schulen zugleich erhebliche Kosten verursachten, ist es nicht verwunderlich, dass es heftige Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des Schulwesens in Varel gab. Am Ende wurde die Realschule zur Bürgerschule zurückgebaut, die Landwirtschaftschule zunächst mit dem Sparmodell einer Winterschule verknüpft und dann wieder selbständig. Seit Mitte der 90er ging es in Varel wirtschaftlich auf-wärts, es gab Forderungen nach der Wiedererrichtung der Realschule und auch die Landwirtschaftsschule wurde mehrfach restrukturiert. Obwohl sie sich dann in den Jahren seit der Jahrhundertwende erfolgreich behaupten konnte, wurde sie 1913 aufgelöst und durch eine „Landwirtschaftliche Winterschule“ ersetzt, die ein eigenes Gebäude an der heutigen Friedrich-Ebert-Straße erhielt. Wie es mit ihr weiterging, bedarf nach M. Wefer noch der genaueren Aufarbeitung. 1961 jedenfalls appellierte ein Professor Meyer aus Wilhelmshaven anlässlich einer Jubiläumsfeier der Landwirtschaftsschule Varel „an die Landwirte, ihre Kinder auf die Landwirtschaftsschule zu schicken, deren Existenz sie selber in der Hand hätten.“ Seit 1964 wird „Landwirt“ als Lehrberuf anerkannt und natürlich kann man heute an den BBS Varel eine entsprechende Ausbildung absolvieren. Gründe für eine hochwertige Qualifikation gab und gibt es genug, denn auch und gerade in der Landwirtschaft ändern sich die Produktionsbedingungen permanent. M. Wefer hat einen äußerst faktenreichen Vortrag gehalten, der ein größeres Publikum verdient hätte. Die, die da waren, spendeten jedenfalls zu Recht reichlich Applaus.
Rainer Urban