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„Junges Blut soll man sparen auf spätere Zeit“
Georg Ruseler und der I. Weltkrieg

Nach den Niederlagen in zwei verheerenden Weltkriegen sind die Deutschen heute in ihrer überwältigenden Mehrheit kriegsmüde geworden. Den meisten fällt es schwer, die Begeisterung nachzuvollziehen, mit der viele Künstler und Intellektuelle den Kriegsausbruch 1914 begrüßten, auch wenn die allgemeine Zustimmung vermutlich nicht so groß war, wie sie in der Propaganda dargestellt wurde. Dass kritische Stimmen sich nicht öffentlich artikulieren konnten, dafür sorgte schon die sofort einsetzende Zensur, die detailliert vorgab, was in den Zeitungen stehen durfte und was nicht.

Wenn Georg Ruseler Anfang 1919 schreibt, dass sein Glauben an eine deutsche Zukunft „seit achtundzwanzig Jahren langsam geschwunden (war), mehr und mehr, und in den Tagen unserer größten Siege regte sich der stärkste Zweifel“, dann mag das stimmen oder auch nachträgliches Wunschdenken sein. Während des Krieges hätte er seine Bedenken jedenfalls nicht veröffentlichen können. Aber er schwieg auch nicht. Wir haben von ihm patriotische Gedichte, und wir haben die Erzählung „Der Spaziergang nach England“, die er – eigentlich ein erklärter Gegner einer spezifischen Jugendliteratur – 1916 in dem Band „Mit Volldampf ran an den Feind“ – Ein Heldenbuch der deutschen Marine aus den Kriegsjahren 1914/1915“ veröffentlichte. Wenn wir zu erfassen suchen, was Ruseler mit dieser Geschichte seinen jungen Lesern vermitteln wollte, müssen wir sie ein wenig genauer wiedergeben:

Ruseler schildert die Abenteuer von „zwei Knaben“, Wulf und Wert, Neffen des Leuchtturmwärters, Söhne eines „richtigen Seemanns“, der sich „gleich zu Anfang des Krieges freiwillig gestellt“ hat und jetzt dabei hilft, „auf ‚Kronprinz Wilhelm‘ englische Kriegsschiffe (zu) jagen.“ (172) Die beiden wollen nach einem längeren Spaziergang durch das Wattenmeer beobachten, wie der allein übrig gebliebene Kirchturm eines in den Fluten versunkenen Dorfes gesprengt wird, „weil er dem Feinde Ziel und Richtung bieten konnte.“ (174) Aber es kommt Nebel auf, Wulf und Wert irren umher, können sich jedoch kaltblütig auf eine Bake, dann auf ein vorbei treibendes Segelboot retten. Dann löst der Nebel sich auf, sie sehen deutsche Kriegsschiffe – nach Wilhelmshaven? – einziehen: „Hatten sie einen Angriff auf die englische Küste gemacht?“ (178) Die Jungen beobachten, wie der Turm gesprengt wird, essen, werden müde. Als sie in der Nacht erwachen, begleitet der Erzähler ihren Blick auf das Wasser mit den Sätzen: „Meer, Meer, o du deutsches Meer, das uns verbindet mit der weiten Welt, du darfst nimmer britische Fesseln tragen! Eh das geschehe, eher soll der starke Ruf der Friesen wieder lebendig werden, der laut durch das ganze Mittelalter tönte, Herzen weckend, stählend, begeisternd, der stolze, todesmutige Ruf: Lieber tot als Sklav!“ (179) Die „Stedinger“ lassen grüßen.

Am nächsten Morgen wird ein toter deutscher Matrose angeschwemmt, den die Knaben „mit dem ergreifenden Feldliede der alten Landsknechte“ „Kein schön’rer Tod ist in der Welt, / Als wer vom Feind erschlagen“ begraben. Schon lässt ein sirrender Ton sie aufhorchen; es handelt sich um drei englische Doppeldecker, die einen deutschen Zeppelin angreifen; diese „wollten das mit dem Luftschiff tun, was ihren Staatsmännern mit dem Deutschen Reiche gelungen war: sie versuchten es einzukreisen.“ (181/182) Der Zeppelin gewinnt, ein Flugzeug muss vor den Jungen auf der Sandbank notlanden. Ein Engländer ist tot, der zweite hat ein Bein gebrochen. Die friesischen Buben versorgen ihren Gefangenen, schleppen ihn in ihr Boot und brechen auf. Da begegnen sie einem deutschen Unterseeboot, das die drei aufnehmen will. Der Engländer ruft „Revenge for Aboukir and Cressy“ (190), holt „aus seinem Gewande eine Handbombe“, aber die Jungen hindern ihn am Wurf und fallen mit ihm beim Kampf ins Wasser. Sie werden gerettet, der Engländer zieht es hingegen vor, heroisch unterzugehen.

Der Kommandant und ein Bootsmaat führen die beiden durch das U-Boot und erklären einige Geheimnisse dieser modernen Wunderwaffe und deren Bedeutung im Kampf gegen die Engländer (192ff). Der Theorie folgt die Praxis: Das U-Boot versenkt zunächst einen Handelsdampfer (196ff), danach ein englisches Schlachtschiff (204ff). Selbst die Flucht unterhalb der englischen Torpedoboote gelingt (206ff) und alle gelangen wohlbehalten in den deutschen Kriegshafen. Das Abenteuer ist zu Ende: Eine handlungsstarke Geschichte, die – wie Karl May – Wunscherfüllungsträume von Jugendlichen bedient.

Wenn Ruseler eine skeptische Haltung gegenüber der deutschen Kriegspolitik gehabt haben sollte, dann ist in dieser Erzählung nichts davon zu bemerken. Seine Jungen bleiben in jeder Todesgefahr „gleichmütig“, sie tanzen selbst auf dem U-Boot ihren „Indianertanz“ (193). Sie stört auch nicht, dass sie „im schlimmsten Falle sogar soviel Salzwasser trinken (durften), dass sie für ewige Zeiten davon genug hatten“ (192), was freilich schade wäre, denn „junges Blut soll man sparen auf spätere Zeit“. (201) Der junge Kapitän kommt ihnen vor „wie ein machtvoller Gott.“ (202)

Immer wieder verdeutlicht der Erzähler mit seinen Reflexionen, dass die Deutschen sich nur gegen die Übergriffe der Engländer wehren: „Wir [Engländer; R.U.] sperren den Kanal, wir sperren die Straße von Dover, dann kann kein deutsches Handelsschiff mehr durch, und alle deutschen Frauen und Kinder müssen hungern. Der deutsche Soldat bekommt nichts mehr zu essen, also kann er nicht kämpfen, und sein Land muß einen Frieden schließen, wie England ihn will. O Heldengeist, der in Krämertum verkehrt ward […].“ (196). Rhetorisch geht es darum, „Gleiches mit Gleichem vergelten“. Dass die deutsche Kriegsflotte nach den schlechten Erfahrungen vor Helgoland im August 1914 und der Doggerbank Januar 1915 aller Propaganda zum Trotz faktisch dazu gar nicht in der Lage war, wird natürlich verschwiegen. Gegen das englische Kalkül half nach Meinung der deutschen Kriegsbefürworter nur eine Wunderwaffe: das U-Boot. Das Vorbild für diese Art der Kriegsführung wie für Teile der Erzählung lieferte der als sensationell empfundene Angriff des UBootes U9, das am 22.09.1914 unter dem Kommando von Kapitän Weddigen drei englische Panzerkreuzer versenkte. Und so sind die Jungen auf dem U-Boot in Ruselers Erzählung keineswegs überflüssig, sondern machen dem Kapitän wohl um die Jahreswende 1915/1916 mit dem „Lied von Ott Weddigen“ (203) „die Seele frisch“: „Sei Gott mit uns, wie er mit ihm war.“ Für Ruseler steht die Heimatfront – noch.

Rainer Urban, Ende Dezember 2015