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Das Handeln und die Motive eines nahen Zeitgenossen zu verstehen, ist schon eine Herausforderung, und wir können nicht sicher sein, dass uns das wirklich gelingt. Sehr viel größer, vielleicht sogar unlösbar, wird die Aufgabe, wenn es um Personen geht, die lange vor uns gelebt haben, in einer so ganz anderen natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt als der, die uns vertraut ist.
Charlotte Sophie von Aldenburg ist so ein Fall. Ihre Geburt vor dreihundert Jahren – am 5. August 1715 in Varel – nahm der Heimatverein zum Anlass, Arno Randig aus Wilhelmshaven als Referenten einzuladen, um diese Frau einem interessierten Publikum vorzustellen.
Ihr Urgroßvater war der in der Oldenburger Geschichtsschreibung so häufig glorifizierte hochadelige Reichsgraf Anton Günther, der mit der vom Stand her nicht ebenbürtigen Elisabeth von Ungnad einen Sohn Anton zeugte, ihn aber zunächst nicht anerkannte. Anton Günther hatte vor, mit der jungen Katharina Sophie von HolsteinSonderburg einen legitimen Erben in die Welt zu setzen, was den beiden aber nicht gelang. Erst nachdem der Misserfolg unübersehbar war, entschloss er sich, Anton nachträglich aufzuwerten. Das kostete ihn viel Zeit und Geld und dennoch wurde Anton nie als dem Vater voll gleichwertig legitimiert. Das dokumentiert schon der Wechsel des Vokals im Anlaut: Er musste sich „Anton von Aldenburg“ nennen, durfte aber für den dänischen König Oldenburg als Statthalter verwalten und in Varel und Kniphausen ein eigenes kleines Erbe antreten, das ihm und seinen Nachkommen allerdings immer wieder von den Dänen streitig gemacht wurde. Charlotte Sophie von Aldenburg – nach Meinung der Vareler „das achte Weltwunder“ 2 Das alles hielt seine Enkelin Charlotte Sophie nicht davon ab, einen Stammbaum zu zeichnen, der phantasiereich mit Widukind begann, Anton Günther als Anton III., den Großvater als Anton IV. und den Vater als Anton V. in die Oldenburger Ahnengalerie einordnete. Für den damit dokumentierten Anspruch auf reichsweite Anerkennung ihres adeligen Ranges aber waren Varel und Kniphausen als Basis zu klein, zumal die Sturmfluten von 1717 und 1718, Missernten und Viehseuchen zu weiterer Schuldenaufnahme zwangen. Vor diesem ökonomischen Hintergrund arrangierte ihr Vater eine Heirat mit dem Niederländer Willem Bentinck, weil er ihn für reich hielt. Bentinck wiederum vermutete bei den Aldenburgern nicht nur vielfältige Verbindungen zum deutschen Hochadel, sondern auch ein ansehnliches Vermögen, auf das er mit der Hochzeit 1733 Zugriff bekommen wollte. Dafür investierte er sogar eine größere Summe, um den Titel eines Reichsgrafen zu erwerben. Für Charlotte Sophie war diese Verbindung von Anfang an eine nicht nur die finanziellen Erwartungen enttäuschende Vernunftehe. Zwar brachte sie Willem 1734 und 1737 zwei Söhne zur Welt, aber nach dem Tode ihres verehrten Vaters im Jahre 1738 nahm sie auf ihre Ehe keine Rücksicht mehr und lebte als Mätresse des Grafen Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe so oft und solange es ging an dessen Hof in Bückeburg. In Bückeburg bildete sie regelmäßig den Mittelpunkt der Hofgesellschaft, schenkte zwei weiteren, diesmal illegitimen Söhnen das Leben und lernte vermutlich auch Voltaire kennen, mit dem sie eine langjährige Brieffreundschaft verband. 1740 trennte sie sich von Willem mit einer „Scheidung von Tisch und Bett“. 1748 starb Albrecht Wolfgang, Charlotte Sophie musste Bückeburg verlassen. Nach Varel durfte sie nicht mehr, weil Willem Bentinck inzwischen gegen sie ein Verfahren beim dänischen König erfolgreich in Gang gesetzt hatte. So ging sie nach Berlin, hatte dort nicht nur einen gut besuchten Salon, sondern sogar Kontakt zu Friedrich dem Großen, den sie – wenn auch vergeblich – für ihre familiären Streitigkeiten zu nutzen versuchte. 1754 musste sie mit ihrem Hofstaat, rund 30 Personen, nach Leipzig weiterziehen, wo sie Verbindung zu den Gottscheds hatte. Von Leipzig ging es nach Wien, an den Hof Maria Theresias. Die Beziehungen Charlotte Sophies reichten bis nach Petersburg und Paris. 1761 musste sie auch Wien unfreiwillig verlassen, Varel war ihr verboten, also ließ sie sich für einige Jahre in Jever nieder. 1767 zog sie an den Jungfernstieg nach Hamburg, eröffnete dort wieder einen Salon, kümmerte sich um ihre berühmte Münzsammlung, empfing ab 1789 zum Ärger der 3 bürgerlichen Kreise auch adelige Flüchtlinge aus Frankreich. 1800 starb diese Frau, die einerseits großen Wert auf Herkommen und Tradition legte, zugleich aber die traditionellen Vorrechte der Männer in Frage stellte. Sie warf das aristokratische Ehekalkül zugunsten einer Liebesbeziehung über Bord, betrieb christlich motivierte Selbsterforschung und nahm die angeborene Ungleichheit der Menschen als gegeben hin. Sie wird gleichzeitig als großherzig und als launisch beschrieben, lebte finanziell immer über ihre Verhältnisse und war dennoch nie „pleite“. Hella S. Sasse hat ihr einen sehr lesenswerten dokumentarischen Roman gewidmet, nach dem in den Niederlanden ein Film gedreht wurde. In den Archiven lagern Tausende von Briefen und anderen Dokumenten, die noch der Erschließung harren. Es ist unvermeidlich, dass Arno Randig mit seinem Referat über dieses Leben in gut einer Stunde seinen Zuhörern nur einen ersten Überblick verschaffen konnte. Das ist ihm gelungen.
Rainer Urban